Die Leistungsfähigkeit des Immunsystems lässt bekanntlich im Alter nach. Betroffen von der »Immunseneszenz« ist vor allem das adaptive Immunsystem, das die Abwehr gegen neue Erreger orchestriert. Das Ergebnis ist eine erhöhte Anfälligkeit für Infektionskrankheiten und ein längerer und unter Umständen komplizierterer Verlauf. Das alternde Immunsystem spricht auch schlechter auf Impfungen an, was deren Wirkung unsicherer macht.
Das Immunsystem behält jedoch auch im Alter eine gewisse Lernfähigkeit, und wer auf seine Gesundheit achtet, kann ein leistungsfähigeres Abwehrsystem haben als jüngere Menschen, die ein stressiges Leben haben, rauchen oder regelmäßig Alkohol trinken. Ältere Menschen etwa, die in den Jahren vor der Coronapandemie einen gesunden Lebensstil gepflegt hatten, hatten ein wesentlich geringeres Risiko für Krankenhausaufenthalte oder Tod durch COVID-19[1].
Auch die meisten chronischen Krankheiten sind durch die Lebensweise mitbedingt. Eine wichtige Aufgabe von uns Ärzten besteht daher darin, die Menschen zu einem gesunden Lebensstil zu befähigen:
- gesunde, ausgewogene Ernährung,
- tägliche Bewegung wie Spazierengehen, Radfahren oder Schwimmen,
- Ruhephasen, Stressvermeidung und ausreichender Schlaf,
- Vermeiden von Risikofaktoren wie Über- oder Untergewicht, Rauchen und Alkohol,
- Pflege von familiären und freundschaftlichen Beziehungen, in denen man miteinander spricht, sich berührt, in den Arm nimmt.
Viele der im Alter empfohlenen medizinischen Maßnahmen – von Krebsfrüherkennung über regelmäßige »Check-ups« und die Einnahme von Cholesterinsenkern bis hin zu Impfungen – mögen zwar einen gewissen Nutzen haben, aber etwaige Nachteile und Risiken werden selten kommuniziert. Letztlich entscheidend ist die Frage: Verbessert sich dadurch die Lebensqualität, verlängert sich das Leben? Die Antwort fällt nicht immer eindeutig aus.
Im Schnitt nehmen Sechzig- bis Siebzigjährige heute täglich acht bis neun Medikamente ein – mit unüberschaubaren Wechsel- und Nebenwirkungen. Experten beklagen die hohe Zahl ärztlicher Fehlverordnungen bei älteren Menschen. Verschreibungspflichtige Medikamente gehören inzwischen zu den häufigsten Todesursachen[2].
Für ältere Menschen werden auch immer mehr Impfungen empfohlen, ohne dass Nutzen und Risiken in jedem Fall ausreichend abgewogen oder kommuniziert werden. Deutschland und Österreich sind dabei in Europa Spitzenreiter. Die STIKO setzt sich aus klaren Impfbefürwortern zusammen, die zum Teil erheblichen Interessenkonflikten unterliegen[3].
Empfohlen sind ab dem Alter von sechzig Jahren (Stand 2025) die Impfungen gegen
- Tetanus und Diphtherie alle zehn Jahre,
- Keuchhusten einmalig im Erwachsenenalter,
- Pneumokokken einmalig,
- Herpes Zoster zweimal im Abstand von zwei bis sechs Monaten,
- Influenza einmal jährlich im Herbst,
- COVID-19 einmal jährlich im Herbst,
- FSME in Risikogebieten alle drei bis fünf Jahre,
- RSV einmalig ab 75 Jahren.
Zum Vergleich die Impfempfehlungen ab 65 Jahren in Dänemark:
- Influenza jährlich,
- COVID-19 einmal im Herbst.
Impfungen generell abzulehnen ist eine irrationale Position. Sie haben mit dazu beigetragen, dass die Pocken verschwunden sind und Diphtherie, Polio oder Masern nur noch in wenigen Ländern der Welt eine ernstzunehmende Rolle spielen. Auch Tetanus ist überall dort, wo dagegen geimpft wird, extrem selten geworden. Als effektiv haben sich weiterhin Impfstoffe gegen Erkrankungen erwiesen, die nur in bestimmten Regionen auftreten, wie FSME (Zeckenenzephalitis), Gelbfieber, Hepatitis A oder die Japanische Enzephalitis.
Impfungen funktionieren allerdings nicht immer so wie gewünscht:
- Manche Impfstoffe haben eine sehr kurze Wirkdauer (zum Beispiel Keuchhusten, COVID-19).
- Manche erzeugen zwar Antikörper im Blut, aber kaum auf der Schleimhaut (zum Beispiel Keuchhusten, Influenza, COVID-19, RSV).
- Manche wirken nur gegen bestimmte Untergruppen eines Erregers, was ihre Wirksamkeit einschränkt (zum Beispiel Pneumokokken, Influenza, COVID-19).
- Manche haben ein besonders hohes Risiko von Nebenwirkungen (zum Beispiel Herpes Zoster, FSME, RSV, COVID-19).
- Manche Impfstoffe (zum Beispiel gegen Tetanus, Diphtherie, Keuchhusten, Influenza) schwächen die Immunantwort auf andere Krankheitserreger[4].
Dadurch ist das Verhältnis zwischen Nutzen und Risiko einer Impfung nicht immer eindeutig positiv. Es fehlen Studien zu der Frage, welche Impfungen wirklich zu einer besseren Lebensqualität oder einem längeren Leben führen. Ein wichtiger Aspekt der Impfentscheidung bleibt die individuelle Risikoeinschätzung durch die Betroffenen selbst.
Zwei Beispiele von Impfempfehlungen, die Fragen offen lassen:
- Seit August 2024 empfiehlt die STIKO die Impfung gegen RS-Viren für alle ab dem Alter von 75 Jahren, außerdem für Risikopatienten mit chronischen Erkrankungen ab dem Alter von sechzig Jahren. In den Zulassungsstudien zu den Impfstoffen Abrysvo und Arexvy konnte der Einfluss auf schwere oder gar lebensbedrohliche Verläufe nicht belegt werden. Insgesamt mussten nur sechs Personen (0,01 Prozent) stationär wegen RSV behandelt werden, Todesfälle gab es nicht. Über Achtzigjährige waren zudem in den Studien stark unterrepräsentiert. Bereits im zweiten Jahr sank die Wirkung der untersuchten RSV-Impfstoffe deutlich[5]. Die Häufigkeit und Schwere von Atemwegsinfekten insgesamt wird durch die RSV-Impfung nicht beeinflusst. Dem gegenüber steht das Risiko schwerer neurologischer Nebenwirkungen wie etwa Guillain-Barré-Syndrom von etwa 1: 100 000[6]. Der Nutzen der Impfung ist zweifelhaft.
- Ein ähnlicher Befund ergibt sich bei der Influenzaimpfung, die für alle über 60-Jährigen empfohlen ist. Sicher ist die Influenza für alte Menschen eine Bedrohung: Mehr als 90 Prozent aller mit Influenza zusammenhängenden Todesfälle ereignen sich bei über 65-Jährigen. Eine nachhaltige Wirkung der Impfung ist jedoch nicht belegt: systematische Überprüfungen der veröffentlichten Impfstudien zweifeln an einer substanziellen Impfwirkung[7] [8]. Niederländische Ärzte analysierten über zwei Winter fieberhafte grippeartige Erkrankungen bei älteren Menschen und kamen zu dem Ergebnis, dass in jedem Winter etwa 10 Prozent erkrankten und Geimpfte und Nichtgeimpfte gleich häufig betroffen waren. Bei Geimpften wurde zwar seltener das Influenzavirus nachgewiesen, umso häufiger dafür andere Erreger. Das Fazit der Autoren: »Wir vermuten, dass es einen Pool von Individuen gibt, die für Atemwegserkrankungen sehr empfänglich sind«[9]. Schwere neurologische Impfkomplikationen oder -schäden sind zwar selten[10], die Wahrscheinlichkeit steigt jedoch mit der jährlichen Impfung. Das Nutzen-Risiko-Verhältnis der Impfung ist unklar.
Fazit:
- Wir brauchen eine offenere und transparentere Diskussion über das Für und Wider von Impfungen.
- Wir brauchen unabhängige Gesundheitsbehörden, die neue Impfstoffe nur nach eingehender Prüfung zulassen und allen Sicherheitssignalen akribisch nachgehen.
Mehr Informationen finden Sie in meinem Buch „Impfen ab 60“ beim Droemer/Knaur-Verlag (https://www.droemer-knaur.de/b.uch/martin-hirte-impfen-ab-60-9783426560365).
Referenzen:
[1] Wang, Y., et al. (2024). Healthy lifestyle for the prevention of post-COVID-19 multisystem sequelae, hospitalization, and death: a prospective cohort study, medRxiv 01.30.24302040, https://doi.org/10.1101/2024.01.30.24302040
[2] Gøtzsche, P. C. (2024). Prescription Drugs Are the Leading Cause of Death. Brownstone Institute.16. April. https://brownstone.org/articles/prescription-drugs-are-the-leading-cause-of-death
[3] Hirte, M. (2025). Die neue STIKO. https://martin-hirte.de/die-neue-stiko-2024
[4] Stabell Benn, C., et al. (2023). Implications of non-specific effects for testing, approving, and regulating vaccines. Drug Saf, 46, 439–448. https://doi.org/10.1007/s40264-023-01295-3
[5] Riccò, M., et al. (2024). Efficacy of Respiratory Syncytial Virus Vaccination to Prevent Lower Respiratory Tract Illness in Older Adults: A Systematic Review and Meta-Analysis of Randomized Controlled Trials. Vaccines (Basel), 12(5), 500, http://doi.org/10.3390/vaccines12050500
[6] FDA (2025). FDA Requires Guillain-Barré Syndrome (GBS) Warning in the Prescribing Information for RSV Vaccines Abrysvo and Arexvy. https://www.fda.gov/vaccines-blood-biologics/safety-availability-biologics/fda-requires-guillain-barre-syndrome-gbs-warning-prescribing-information-rsv-vaccines-abrysvo-and
[7] Barosa, M., et al. (2024). Evidence base for yearly respiratory virus vaccines: Current status and proposed improved strategies. Eur J Clin Invest, e14286, https://doi.org/10.1111/eci.14286
[8] Demicheli, V., et al. (2018). Vaccines for preventing influenza in the elderly. Cochrane Database Syst Rev, https://doi.org/10.1002/14651858.CD004876.pub4
[9] Beek, J. van, et al. (2017). Influenza-like Illness Incidence Is Not Reduced by Influenza Vaccination in a Cohort of Older Adults, Despite Effectively Reducing Laboratory-Confirmed Influenza Virus Infections. J Infect Dis, 216(4), 415–424, https://doi.org/10.1093/infdis/jix268
[10] Levison, S. L., et al. (2022). Guillain-Barré syndrome following influenza vaccination: a 15-year nationwide population-based case–control study. Eur J Neur, 29, 3389–3394, https://doi.org/10.1111/ene.15516